Der Hypoxie-Faktor HIF liefert die Erklärung, warum ein Höhentraining mehr bewirkt als nur eine Vermehrung der roten Blutkörperchen.
Nach den Olympischen Sommerspielen 1968 in Mexiko war das Interesse am Höhentraining geweckt. Weil die Wettbewerbe auf einer Höhe von circa 2300 Metern stattfanden, verlegten die Athleten ihr Training auch in die Berge. Sie wollten den vorteilhaften Einfluss der „dünnen Luft“ auf das Herz-Kreislauf-, Atmungs- und Blutsystem nutzen.
Dass das Training in den Bergen wirkt, wusste man. Aber wie der leichte Sauerstoffmangel (Hypoxie) zur Leistungsverbesserung im Körper führt, konnte man sich noch bis vor ein paar Jahren nicht ausreichend erklären. Die beobachtete Vermehrung der roten Blutkörperchen reichte als Erklärung für die Veränderungen im Körper nicht aus. Den Durchbruch für das Verständnis brachte die Entdeckung des Hypoxie-Faktors HIF-1-alpha. Er lieferte die Erklärung für die umfassende Wirkung des Höhentrainings.
Die Entdeckung des Hypoxie-Faktors
Die Abkürzung HIF steht für „hypoxic inducible factor“, was auf Deutsch Hypoxie-induzierter Faktor bedeutet. Hinter dem Fachbegriff verbirgt sich ein Sauerstoffsensor, der aktiv wird, wenn nicht genug Sauerstoff in den Körperzellen vorhanden ist. Er steuert einen der überlebenswichtigsten Prozesse im Körper: Anpassung von Zellen, Gewebe und Organe an einen Sauerstoffmangel.
Anfang der 1990er Jahre wurde der Hypoxie-Faktor HIF von Professor Gregg Semenza an der John Hopkins University entdeckt. Für die Entschlüsselung des Mechanismus, wie der HIF im Körper wirkt, erhielt er zusammen mit zwei weiteren Wissenschaftlern den Nobelpreis 2019 für Medizin.
Die Bedeutung des Hypoxie-Faktors
Die Existenz des HIF zeigt, dass der menschliche Körper besser auf einen vorübergehenden Sauerstoffmangel vorbereitet ist, als es sich viele Menschen vorstellen können. Das muss er auch, denn jede Körperzelle braucht Sauerstoff zur Energiegewinnung. Bei einer mangelhaften Versorgung, sei es beispielsweise in den Bergen, bei körperlicher Anstrengung oder lokal begrenzt nach einer Verletzung, muss der HIF aktiv werden, damit die Zellen schnell wieder ausreichend Sauerstoff für die Energiegewinnung und Wundheilung erhalten.
Der HIF sorgt nicht nur für die Anpassung der Zellen an eine geringere Sauerstoffmenge, sondern ist gleichzeitig ein Signal für die Selbstreparatur des Körpers.
Die Bildung des Hypoxie-Faktors
Der HIF ist ein kleinmolekulares Protein, das in jeder Körperzelle ständig gebildet wird. Häufig ist nur die Rede von HIF-1-alpha und vielleicht noch von den Untereinheiten 2 und 3. Genau genommen besteht das HIF-Protein aus zwei Komponenten: Alpha-HIF und Beta-HIF. Der Alpha-HIF-Anteil aktiviert das Protein. Er gibt das Signal, um die Anpassungsprozesse in Gang zu setzen. Bei ausreichender Sauerstoffversorgung wird der Alpha-HIF-Anteil durch die Abbauprodukte, die bei der Energiegewinnung entstehen, zerstört. Der Beta-HIF-Anteil bleibt erhalten und wartet auf seinen Einsatz. Sobald sich etwas an der Versorgung ändert, also weniger Sauerstoff die Zellen erreicht, kann sich der Alpha-HIF-Anteil anreichern und sich mit Beta-HIF vereinen. Als Einheit lösen sie im Zellkern eine Reihe von Genaktivitäten aus.
Professor Gregg Semenza berichtet von über 1000 Genen, die direkt oder indirekt vom HIF beeinflusst werden. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft noch mehr Gene bekannt werden.
Die Wirkung des Hypoxie-Faktors
Der Einfluss des HIF ist groß. Wie schon erwähnt, kann er mehrere hundert Gene aktivieren. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, sie alle ausführlich zu beschreiben. Zudem kommen immer noch neue Erkenntnisse hinzu. Um einen Eindruck zu vermitteln, werden in diesem Beitrag deshalb nur die wichtigsten Auswirkungen beschrieben.
Die bekannteste Wirkung des HIF ist die Bildung des Erythropoetins in der Niere und Leber. Das Hormon, das oft auch nur EPO genannt wird, fördert die Entwicklung der roten Blutkörperchen. Die innere Schicht der Adern, das Endothel, reagiert auf die Aktivierung des HIF mit einer vermehrten Freisetzung des Gefäßwachstumsfaktors VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor), die wiederum zu einer Steigerung der Stickstoffmonoxid-Produktion (NO) führt. Beide Reaktionen wirken sich förderlich auf den Zustand der Gefäße aus. Die Zunahme der insulinabhängigen GLUT-4-Glucosetransporters ist ein weiterer positiver Einfluss, der langfristig weniger Insulinresistenz und eine bessere Kohlenhydratverwertung bedeutet.
Letztendlich reagiert jede Körperzelle auf den HIF. Wenn den Mitochondrien (zuständig für die Energiegewinnung in der Zelle) zu wenig Sauerstoff für die Produktion des Energieträgers ATP zur Verfügung steht, dann verändern sie als erste Reaktion ihre Form. Im zweiten Schritt beginnen sie sich zu teilen, um mehr Energie effizienter produzieren zu können. Gleichzeitig setzt der Abbauprozess von alten und beschädigten Mitochondrien ein.
Die negative Seite des Hypoxie-Faktors
Bei einigen Tumorarten entsteht eine lokal begrenzte Hypoxie. Der Einfluss des HIF kehrt sich dann ins Negative um. Mit der gesteigerten EPO-Produktion und verbesserten Blutversorgung beschleunigt er das Krebswachstum.
Ob der HIF-1-alpha zum Übeltäter oder Wohltäter wird, hängt von der Dosis ab. Bei einer unkontrollierten Hypoxie, wie sie lokal bei Tumorerkrankungen oder bei einer Schlafapnoe vorkommt, wird der HIF zur Gefahr. Die Auswirkungen auf die Mitochondrien sind verheerend. Bei einer kontrollierten, individuell auf die Bedürfnisse des Anwenders angepassten Hypoxie, wie es bei einem Intervall-Hypoxie-Training der Fall ist, bietet der HIF großen therapeutischen Nutzen. Die Wirkung ist nicht lokal begrenzt, sondern bezieht auf den ganzen Körper, was sich bei den Mitochondrien auf die Anzahl und Qualität positiv auswirkt.
Hypoxie-Faktor für die Gesundheit nutzen
Die von dem HIF ausgelösten Anpassungen im Körper führen immer zu einer Leistungssteigerung. Was sich nicht nur auf eine gesteigerte körperliche Fitness auswirkt. Für gesunde Menschen bedeutet es, dass sie besser vor Krankheiten und Alterungsprozessen geschützt sind. Menschen mit gesundheitlichen Problemen können mit seiner Hilfe Krankheitsprozesse verlangsamen und im besten Fall rückgängig machen.
Bei einem Intervall-Hypoxie-Training kann beispielsweise ohne Anstrengung durch das Einatmen der sauerstoffreduzierten Luft der HIF aktiviert werden. Die Wirkung ist vergleichbar mit einem sportlichen Training, nur sind die Prozesse, die im Körper stattfinden, viel umfangreicher.
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