Lange Zeit meinte man, dass die Endothelzellen nur zur Verkleidung der Gefäßwände dienen. Heute weiß man, dass es hochaktive Zellen sind, die wie ein eigenes Organ arbeiten.
Der Mensch ist so jung wie seine Gefäße, lautet eine alte Regel. Heute ist bekannt, was die Gefäße jung hält und sie vor gefährlichen Engstellen bewahrt: die Zellen der Gefäßinnenwand, des sogenannten Endothels.
Mehr als nur ein Haufen Endothelzellen
Das Endothel ist die Schnittstelle zwischen allem, was den Körper von außen erreicht und in ihm weitergeleitet wird. Über feine Kanälchen und dünne Spalten ermöglichen die Endothelzellen einen geregelten Austausch zwischen dem Blutstrom und dem umliegenden Gewebe. Elektrolyte, Fette und Glukose passieren die Gewebewand. Genauso bahnen sich Abwehrzellen ihren Weg, wenn sie im angrenzenden Gewebe benötigt werden. Funktioniert der Austausch optimal, dann sind alle Organe gut versorgt und gesund, das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten ist gering.
Etwa 10 Billionen Endothelzellen verteilen sich auf einer Fläche von 6 bis 8 Tennisplätzen über den ganzen Körper mit einem Gesamtgewicht von einem Kilogramm. Schon allein anhand dieser Zahlen lässt sich erahnen, was für eine Bedeutung die Endothelzellen haben. Zusammengenommen bilden sie das größte Organ im Körper. Sie entscheiden mit über Gesundheit und Krankheit, denn hinsichtlich ihrer Stoffwechselaktivität lassen sie sich mit der Leber vergleichen.
Feine Unterschiede beim Endothel
Die Anforderungen an das Endothel sind ganz unterschiedlich. In der Leber muss es viel durchlässiger sein als in der Niere und im Gehirn. Was den Blutstrom verlässt und was in ihn aufgenommen wird, häng davon ab, wie eng und fest die Verbindungen zwischen den einzelnen Endothelzellen sind.
In Gehirn sind die Endothelzellen über sogenannte Tight Junctions so dicht miteinander verbunden, dass ein Durchkommen zwischen den Zellen für größere Moleküle praktisch ausgeschlossen ist. Diese Barriere aus Endothelzellen wird als Blut-Hirn-Schranke bezeichnet. Fettlösliche Stoffe, Sauerstoff und Kohlendioxid können die Schranke passieren, wenn sie benötigt werden. Alle anderen Stoffe wie etwa Zucker, Hormone oder Elektrolyte brauchen spezielle Transportproteine, wie z. B. den Wachstumsfaktor VEGF für Glukose, um durch die Schranke geschleust zu werden.
In anderen Bereichen des Körpers ist das Endothel durchlässiger. Weitere Poren zwischen den Endothelzellen befinden sich überall dort, wo gefiltert, abgegeben und aufgenommen wird, wie z. B. in der Niere, der Magenschleimhaut oder in Hormondrüsen. Eine Zwischenwand schränkt die Durchlässigkeit für Wasser, kleineren Moleküle und wasserlöslichen Stoffe ein. Bei Organen, die einen schnellen Flüssigkeits- und Blutaustausch haben, entfällt die Zwischenwand, wie z. B. bei der Leber und dem Knochenmark. Hier sind die Abstände zwischen den Endothelzellen noch weiter. Im Vergleich zur Blut-Hirn-Schranke ist der Durchtritt etwa 100mal schneller.
Die Steuerung der Durchblutung
Dass das Endothel viel mehr als eine bloße Beschichtung der Gefäßwand ist, zeigt sein Einfluss auf die die Durchblutung. An der Oberfläche der Endothelzellen befinden sich kleine Sensoren, die ständig mit dem Blutstrom in Kontakt stehen. Sie registrieren ständig, wie das Blut fließt und was ihm beigemengt ist. Die Endothelzellen prüfen aber nicht nur, was an ihnen vorbeiströmt, sondern reagieren auch darauf. Ein verändertes Strömungsverhalten, wie es beispielsweise bei einem Sauerstoffmangel (Hypoxie) auftritt, veranlasst die Endothelzellen, eine hochreaktive Substanz zu bilden: Stickstoffmonoxid. Das Gas sorgt für eine Erweiterung der Gefäße, weil es innerhalb weniger Sekunden das Endothel durchströmt und die angrenzende Muskelschicht entspannt. Der Druck auf die Gefäße lässt nach, der Blutdruck sinkt. Das Blut kann schneller bis in kleinste Gefäße durch den Körper gepumpt werden.
Der beste Schutz für die Gefäße
Gesunde Endothelzellen sind das beste Anti-Aging-Mittel. Wenn sie ausreichend Stickstoffmonoxid bilden können, bleiben die Gefäße jung. Unter seinem Einfluss sind sie elastisch und anpassungsfähig. Außerdem verhindert das Gas, dass Bestandteile aus dem Blutstrom an der Gefäßwand hängen bleiben, denn es hält die innere Wandschicht glatt und geschmeidig.
Bei Gefäßschäden lohnt sich es, die Fähigkeiten des Stickstoffmonoxids zu nutzen. Dessen Bildung lässt sich z. B. mit einem Intervall-Hypoxie-Training fördern. Mit der Steigerung der Stickstoffmonoxid-Produktion hilft das Training allen Patienten, bei denen sich eine Arteriosklerose und ein Typ-2-Diabetes bereits ankündigen. In beiden Fällen ist die Stickstoffmonoxid-Bildung deutlich eingeschränkt.
Vermittler bei Entzündungen
Bei Entzündungsvorgängen übernimmt das Endothel eine Art Vermittlungsfunktion. Da Infektionen und Zell-Entartungen in den seltensten Fällen in den Blutgefäßen entstehen, werden die im Blut zirkulierenden weißen Blutkörperchen von dem Endothel einfach an der richtigen Stelle festgehalten. Sie bleiben an der Gefäßinnenwand hängen und wandern von dort in das darunterliegende Gewebe, um eine Infektion zu bekämpfen.
Impulsgeber für neue Gefäße
Neue Gefäße gibt es auch noch nach der Geburt. Die Endothelzellen sind wesentlich an deren Bildung beteiligt, denn sie setzen mit der Ausschüttung des gefäßbildenden Wachstumsfaktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) den Prozess in Gang.
Der medizinische Fachbegriff für die Entstehung von neuen Blutgefäßen ist Angiogenese. Hinter dem Begriff verbirgt sich keine Flickschusterei, sondern ein ganzes System, das ständig prüft, ob alle Organe gut vorsorgt sind und richtig funktionieren. Sobald es zu Unregelmäßigkeiten bei der Durchblutung kommt, werden die Endothelzellen aktiv, wie z. B. bei Verletzungen, wenn die Blutversorgung unterbrochen wird oder beim Sport. Muskeln, die wachsen sollen, brauchen sie eine bessere Durchblutung, also ein größeres Kapillarnetzwerk.
Eine Hypoxie ist der stärkste Impuls für ein Gefäßwachstum. Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob sie lokal auf einzelne Muskelpartien begrenzt ist oder ob im ganzen Körper einen Sauerstoffmangel ausgelöst wird, wie es beispielsweise bei einem Ausflug in die Berge geschieht. Sobald die Gewebezellen nicht mehr ausreichend Sauerstoff erhalten, kann der Hypoxie-Faktor HIF aktiv werden und mit dem Wachstumsfaktor VEGF die Gefäßbildung anregen.
Corona & Zucker – Feinde des Endothels
Auf Zucker reagieren die Endothelzellen sehr sensibel. Er verklebt und verhärtet die Proteine in der Gefäßwand so miteinander, dass ihre Funktion nachhaltig gestört wird. Die „verzuckerten“ Proteine werden von Medizinern als Glykosylierung bezeichnet. Die Folgen des süßen Lebens können bei gesunden Menschen genauso auftreten wie bei Diabetikern. Sie machen alt und können bei Diabetes zu einer Reihe von Komplikationen führen.
Das Bauchfett hat es ebenfalls auf die Aktivitäten der Endothelzellen abgesehen. Neben Hormonen produziert es auch reichlich entzündungsfördernde Zytokine. Sie setzten einen chronischen Entzündungsprozess in Gang, der lange Zeit unbemerkt bleibt. Die Funktion der Endothelzellen leidet unter dem gefährlichen Schwelbrand. Ihre Durchlässigkeit verändert sich und die Gefäßwände werden immer anfälliger für Ablagerungen.
Das Corona-Virus ist ein neuer Angreifer auf das Endothel. Über die Lunge gelangt es in die Blutbahn und dort beginnt es gleich an der Gefäßwand mit seinem zerstörerischen Werk. Es kann Endothelzellen beschädigen und sie sogar ganz zerstören. Die Versorgung der Organe mit Sauerstoff und Nährstoffen verschlechtert sich, bis sie komplett zusammenbricht und ein sogenanntes Multiorganversagen die Folge ist. Forscher entdeckten an Menschen, die an Corona verstorben sind, Blutgerinnsel in den Gefäßen verschiedener Organe und Entzündungen an der Gefäßinnenhaut. Besonders betroffen waren Endothelzellen in Lunge, Herz und Darm. Viele der Untersuchten litten an Vorerkrankungen, die mit einem geschädigten Endothel einhergehen, wie z. B. Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht.
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